Leben aus zweiter Hand

Morgens, irgendwann zwischen halb sieben und sieben gehe ich mit meinem Hund raus. Es ist das Erste, was ich morgens mache. Um diese Jahreszeit, Anfang Januar, bedeutet das, es ist dunkel. Im Moment ist es zusätzlich auch noch nass und windig bis stürmisch. Winterlich ist es jedenfalls nicht, nur widerlich.
Der größte Teil unseres morgendlichen Spazierganges führt uns natürlich durch die Felder. Ein Teil führt uns aber auch durch den Ort. Der wacht um diese Zeit gerade  auf. Die meisten Fenster sind noch dunkel, nur hinter wenigen brennt schon Licht und ich vergnüge mich damit, mir vorzustellen, was da gerade los ist.
Keine Sorge, ich gucke dabei nicht auf fremde Frühstücksteller und schleiche mich an Fenster an, mir reicht ein Blick aus der Ferne. Ein Fenster mit einer dicken, bauschigen, romantischen Gardine, das ganze Haus dunkel, nur hinter diesem Fenster brennt ein wenig Licht. Ob hier das Schlafzimmer ist? Gerade hat der Wecker geklingelt und jetzt sind die Bewohner dieses Hauses eben dabei, aufzustehen.
Hinter einem anderen Fenster sehe ich eine Frau im Morgenmantel hantieren. Ah, da führte der erste Weg wohl in die Küche und zur Kaffeemaschine, erstmal ein Kaffee, danach beginnt der Tag. Manchmal brennt nur in einem Treppenhaus Licht, der Rest ist dunkel. Ob sich da gerade jemand im Flur fertig macht für den Weg zur Arbeit?
Am interessantesten sind die Häuser, die um diese Zeit schon hell erleuchtet sind. Vermutlich wohnen da Familien mit Kindern, da geht es morgens schon turbulent zu. Schulsachen müssen noch zusammen gesucht werden, das Frühstück darf nicht ausfallen, die Eltern müssen zur Arbeit, der Jüngste hat verschlafen und die Mittlere findet ihren Turnbeutel nicht – natürlich ist das reine Fantasie, aber so stelle ich es mir vor. Manchmal sehe ich hinter einem Fenster dann auch eine ganze Familie am Frühstückstisch sitzen.
Auf diese Weise haben mein Hund und ich schon recht viel erlebt, wenn wir von unserem morgendlichen Spaziergang zurück kommen. Er hat ausgiebig „Zeitung gelesen“ und alle Düfte unterwegs in sich aufgesogen, ich habe mir beleuchtete Fenster angeschaut und zusammen gereimt, was dahinter los sein könnte. Erlebnisse aus zweiter Hand, sozusagen, dafür vielfältig und abwechslungsreich.

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